Nun folgt Teil 2 der Geschichte, Teil 1 hatte ich bereits vorgestellt. Damit die Geschichte komplett gelesen werden kann, habe ich hier wieder beide Teile zusammengefasst. Schönen Dank fürs Lesen!
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Teil 1:
Jonna schob sich lustlos ein Stückchen Marmeladenbrot in den Mund. Ihre Mutter hatte es in kleine Ecken geschnitten. Das Mädchen ließ ihren Blick über den Frühstückstisch gleiten. Brotkorb, Butter, Käse, Wurstaufschnitt. Und das Glas mit Kirschsaft.
„Vorsicht“, rief Jonna, „das Glas fällt gleich hinunter.“ Mit einer hastigen Bewegung wendete die Mutter den Kopf zum Tisch.
„Unsinn, Jonna, sie steht doch weit genug …“. Aber urplötzlich setzte die Karaffe sich in Bewegung und rutschte auf die Tischkante zu. Die Mutter kam vom Kühlschrank geeilt, um das kleine Unglück zu verhindern. Aber zu spät. Mit einem lauten Klirren zersprang das Glas und der Kirschsaft ergoss sich über den Fußboden, nicht ohne dunkelrote Spritzmuster auf den weißen Türen der Unterschränke zu verteilen.
„Wie konnte das passieren? Wie konntest du das wissen?“ Jonnas Mutter hatte die Hände vor den Mund geschlagen. Sie starrte ihre Tochter an. „Das ist ja unheimlich.“
„Ich gehe zum Schulbus. Tschüss!“ Jonna schnappte ihre Schultasche und ging. Ein kleiner Stoffeisbär baumelte fröhlich am Verschluss der Tasche hin und her.
Abends sprachen Jonnas Eltern über die seltsame Begebenheit. „Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir so etwas Merkwürdiges mit ihr erleben. Weißt du noch, wie Jonna vom Tod ihrer Klassenkameradin geträumt hat? Und dann die schreckliche Gewissheit, als der Traum tatsächlich wahr wurde.“ Der Vater schüttelte bei dieser Erinnerung den Kopf.
„Ja, sie ist schon ein eigenartiges Kind. Was haben wir für Ängste ausgestanden, als sie mit vier Jahren noch nicht gesprochen hat. Und dann ganz plötzlich fing sie an, wie eine Erwachsene zu reden, und dann gleich in ganzen Sätzen. Was mag nur dahinter stecken?“ Besorgt schaute Jonnas Mutter ihren Mann an.
„Ach, sonst ist mit ihr ja alles in Ordnung. In der Schule ist sie sehr gut, sie wird ein tolles Zeugnis bekommen.“
„Das ja, aber sie hat keine Freundinnen. Will keine etwas mit ihr zu tun haben? Wegen ihrer Eigenarten?“
„Ach, mach dir keine Sorgen, das wird schon werden.“
„Sorgen mache ich mir schon“, beharrte die Mutter und sah ihren Mann eindringlich an. „Und dann ihre ewiges Interesse an ihrer Ururgroßmutter, seit sie das alte Foto von Shoona gesehen hat. Gut, sie sehen sich ähnlich wie Geschwister, das ist unverkennbar, auch wenn über hundert Jahre zwischen ihnen liegen.“
„Ach ja, das Geheimnis eurer Familie. Jeder weiß etwas von Shoona, aber keiner will darüber reden. Was habt ihr nur für eine Leiche im Keller? Mich würde das auch interessieren. Ich kann Jonna schon verstehen. Was ist denn mit Shoona geschehen? Man hört so allerlei Geschichten. Ist sie tatsächlich ermordet worden?“
„Ermordet? Nein, man hat nie eine Leiche gefunden. Sie war eben plötzlich verschwunden. Vielleicht ist sie auch wieder zurückgegangen.“ Sie knuffte ihrem Mann in die Seite. „Lass die alten Geschichten ruhen, das bringt nichts.“
„Siehst du, kaum kommt das Thema auf den Tisch, schon wird wieder es abgewürgt.“
„Sie soll doch eine Indianerin gewesen sein, eine Schamanin, eine Heilkundige, oder?“
„Ja, schon, aber wer will das noch wissen, die Leute reden viel, damals wie heute.“
„Aber wenn sie tatsächlich eine Schamanin war, dann ist es doch zu erklären, dass es in eurer Familie in jeder Generation eine Kräuterfrau gegeben hat, oder eine Wahrsagerin. Selbst du …“.
„Ich bin keine Naturhexe.“
„Aber deine Mutter kann doch auch Krankheiten wegsprechen.“
„Aber ich nicht.“
„Aber du greifst lieber zu Heilkräuter, als zu Tabletten.“
„Komm, wir wollen nicht streiten, sind doch alte Geschichten.“ Die Mutter schmiegte sich an ihren Mann.
„Alte Geschichten vielleicht, aber irgendwie hängen sie mit unserem Kind zusammen.“
***
Tage und Wochen vergingen, und die merkwürdige Begebenheit am Frühstückstisch verblasste hinter den Alltagssorgen der Familie. Sie war lediglich eine weitere Anekdote im Gesamtbild, das man über Jonna gewann. Ein merkwürdiges Mädchen eben.
„Wo habt ihr Jonna gefunden?“ Der Uropa war ganz blass geworden und starrte Jonnas Mutter an. Der Alte zitterte am ganzen Körper.
„Unten an den beiden Bächen, du weißt schon, bei den Erlen. Sie ist anscheinend Schlafwandlerin.“
Auch Jonnas Mutter war noch ganz blass. Sie hatte ihre Tochter wecken wollen, aber das Bett war leer gewesen. Dann hatten sie gesucht, im ganzen Haus, dann im Garten. Der Vater war auf die Idee gekommen, unten an den Bächen nachzuschauen. „Jonna hat einmal gesagt, dort sei ihr Lieblingsplatz.“ Sie waren zu der Stelle geeilt und tatsächlich, Jonna lag im Gras und schlief. Der Vater hatte sie aufgenommen und ihr seine Jacke um den frierenden Körper gelegt.
„Jonna, was machst du hier?“ Wieder und wieder fragte die Mutter. Dabei strich sie ihrer Tochter liebevoll über das Haar. Erst als sie wieder zuhause waren, antwortete Jonna. „Ich weiß nicht so richtig. Shoona hat mich gerufen, im Schlaf oder im Traum, und dann bin ich dem Ruf gefolgt. Ich konnte nicht anders, ich musste gehen. Mehr weiß ich nicht, nur dass ihr mich geweckt habt. Ich friere.“
„Ich bringe dich wieder ins Bett, so kannst du nicht zur Schule. Komm.“ Sie nahm ihre Tochter auf den Arm und ging mit ihr ins Kinderzimmer. Jonna schlief sofort ein.
Die Mutter setzte sich zu den Männern an den Küchentisch.
„Du warst ja total geschockt, als wir dir erzählt haben, wo wir Jonna gefunden haben. Was war denn los?“ Fragend sah sie den Alten an. „Ihr dürft sie nie wieder zu den Erlen lassen. Das ist kein guter Ort für sie, für keinen Menschen.“
„Was meinst du?“
„Kein guter Ort, er bringt Unglück.“
„Unglück? Wie kann ein Ort Unglück bringen?“
„Vater, mein Vater, hat mir das gesagt, als ich ein kleiner Junge war. Unglück, hat er gesagt, geh nie dorthin.“
Jonnas Vater sah seine Frau bedeutungsvoll an. Öfter hatten sie schon darüber gesprochen, ihren Großvater in ein Pflegeheim zu geben. Er wurde immer spleeniger.
Aber mit dem Pflegeheim wurde es nichts mehr. Der Alte starb nur wenige Tage später. Er war das jüngste Kind Shoonas, die bald nach seiner Geburt verschwunden war. Keiner wusste, wohin und warum. Sie war ganz einfach weg und war nie wieder aufgetaucht. Zwar wurde von ihrem Tod gemunkelt, auch von Mord, denn sie war immer ein Fremdkörper in diesem Dorf geblieben. Ihr fremdes Aussehen mit dem pechschwarzen, zu langen Zöpfen geflochtenem Haar und den dunklen Augen zogen die Blicke nicht nur der Männer auf sich. Während ihre Blicke eher gierig waren, schauten die Frauen sie mit offenem Argwohn an. Und nicht selten sagte man ihr Hexen- und Zauberkräfte nach. Das lag auch fremdartig klingenden Singsang. Oft hörte man sie leise vor sich hinsingen, Lieder voller Klage und Sehnsucht.
Nach dem Verschwinden Shoonas war die Polizei benachrichtigt worden. Alle Untersuchungen der kaiserlichen Gendarmen waren aber im Sande verlaufen, die Ermittlungen waren irgendwann eingestellt worden. In der Familie war dieses dunkle Kapital der Geschichte meist ausgeblendet worden, und so war reichlich Platz zur Legendenbildung geblieben.
Die Trauerfeier um den Uropa ließ die Erinnerung an Jonnas Schlafwandel zu den Bächen in Vergessenheit geraten. Das Mädchen blieb in den Folgejahren eine merkwürdige Einzelgängerin. Freundinnen gewann sie nie, trotzdem brachten ihr die anderen Schüler eine Art Hochachtung entgegen. Sie war nicht beliebt, aber erfolgreich. Viele Male verbrachte sie ihre Nachmittage an ihrem Lieblingsplatz bei den Bächen. Hier konnte sie wirklich allein sein mit ihren Gedanken. Als der Vater einmal vorschlug, ein gemeinsames Picknick bei den Bächen zu machen, lehnte Jonna mit Bestimmtheit ab. Das sei ihr Platz, sagte sie, hier nähme sie Verbindung mit den Zeiten und Welten auf. Mit dieser Äußerung ließ sie Vater und Mutter verständnislos zurück.
Ihre Eltern hatten sich an das eigenartige Wesen ihrer Tochter gewöhnt. Sie waren froh, dass Jonna in der Schule so erfolgreich war und ein erstklassiges Abitur hinlegte. Weniger begeistert waren sie vom Berufswunsch. Jonna hatte sich bei der Polizei beworben.
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Teil 2:
Jonna prostete ihrem Spiegelbild zu. „Auf die nächsten dreiundzwanzig Jahre!“
Sie stellte das Glas Rotwein vorsichtig zur Seite und legte sich den Bademantel um. Ein gemütlicher Abend am Kamin, den Kater auf dem Schoß und einen guten Roten im Glas. Das war ihr Geburtstag. Keine Gäste, allein mit sich und den eigenen Gedanken.
Gedanken über ihr Leben. Okay, sie war im Grunde zufrieden mit sich, aber ihren Beruf stellte sie mehr und mehr infrage. Nach dem Abi das Studium an der Polizeiakademie, Abschlussbeste mit Auszeichnung, Ernennung zur Kriminalkommissarin, eine karrieremäßige Überfliegerin in den Startlöchern. So sah man sie, zumindest in der Führungsetage der Polizei. Sie selbst aber hatte leichte Zweifel bekommen. Sie hatte trotz ihrer Jugend schon soviel Elend gesehen, menschliche Wracks, tiefe Abgründe. Mord, sexuelle Gewalt, Schlägereien, Quälereien. War es das, was sie wollte? Fasste man einen Täter, tauchten zwei andere auf. Ein Kampf ohne Ende, und das noch dreißig, vierzig Jahre?
Jonna setzte sich ein Ziel. Noch vor ihrem nächsten Geburtstag sollte die Entscheidung fallen, ob sie weiterhin im Polizeidienst bleiben wollte oder nicht. Zwölf Monate Zeit, die Entscheidung vorzubereiten. Das war gut. Sie räkelte sich auf ihrem Sessel und schloss die Augen. Langsam dämmerte sie dahin, fiel in einen leichten Schlaf. Ihre Eltern erschienen ihr im Traum, aber auch der Uropa und alle anderen aus der Familie. Im Traum sahen sie alle gleichaltrig aus. Sie redeten durcheinander, als ob sie sich in einer heftigen Diskussion befinden würden. Und immer wieder fiel der Name Shoona, der ihrer Ururgroßmutter. Shoona, der sie so ähnlich sein sollte, sowohl äußerlich als auch im Wesen. „Sie sind wohl wesensgleich“, hatte es oft geheißen. Aber wer konnte das eigentlich beurteilen? Keiner hatte Shoona gekannt, sie war schon bald nach ihrer Einreise aus Amerika aus dem Leben der Familie verschwunden.
Jonna wachte auf, als der Kater nach Fressen verlangte. Sie füllte den Napf und setzte sich wieder.
„Gut Kater“, sagte Jonna, „ich werde dich ein paar Tage allein lassen. Meine Eltern werden sich freuen, wenn ich sie mal wieder besuchen komme.“
Sie freuten sich tatsächlich, die Begrüßung war herzlich. Obwohl Jonna nur etwa fünfzig Kilometer von zuhause weg wohnte, kam sie höchstens einmal im Jahr zu Besuch in ihr Heimatdorf an der Westküste. Jonna genoss die Apfeltorte, die ihre Mutter aus frischen Äpfeln gebacken hatte.
„Was machen die schweren Geräte drüben beim Stall?“ Jonna hatte den Raupenschlepper und den Bagger gleich bei der Ankunft bemerkt.
„Wir lassen den Stall abreißen, der hat ja schon über hundert Jahre auf dem Buckel. Wir können dort zwei Bauplätze verkaufen. Irgendwie müssen wir die Rente ja aufbessern.“ Der Vater lächelte sie an. „So reichlich haben wir es nicht.“
„Das ist in Ordnung, macht nur. Ich möchte nach dem Kaffee nochmals rüber, vielleicht finde ich ja ein altes Erinnerungsstück.“
Jonna kletterte die Leiter hinauf zum Heuboden. Hier hatte sie sich als Kind gern aufgehalten, es war so ganz anders hier oben, dunkel und doch konnte man manchmal einen Sonnenstrahl durch eine Ritze im Dachstuhl sehen. Jetzt war der Boden leergeräumt, sogar grob ausgefegt. Dort war der Schornstein, der von unten von der Küche kam. Um ihn herum war die Räucherkammer gebaut. Sie öffnete die Tür. Es roch nach Ruß, aber ein Hauch erinnerte Jonna noch an die Räucherware, Schinken und Mettwürste, die hier gehangen hatten. Sie schloss die Tür und schaute sich um. Keine Erinnerungsstücke zu finden. Aber doch, dort lag etwas oben auf der Räucherkammer. Dort hatten die Eltern anscheinend nicht weggeräumt. Das konnte der Stiel vom Dreschflegel sein. Jonna zog die Leiter von der Tenne hoch und lehnte sie gegen die Kammer. Vorsichtig kletterte sie hinauf. Tatsächlich, hier lagen noch alte Geräte und Werkzeuge. Sie stieg ganz hinauf und schaute sich um. Was sollte sie mitnehmen. Als Erinnerung an die alte Zeit, die längst vergangen war. Die hölzerne Harke? Oder doch den Dreschflegel? Da war noch etwas anderes, es steckte hinter den Dachlatten. Eine Mappe? Jonna streckte sich, um den Gegenstand herunter zu holen. Er war weich, Leder oder so. Es war wohl ein Futteral oder ein Etui. Eine Schnur hielt das Leder zusammen. Im Halbdunkel konnte sie nicht viel erkennen. Aber sie fühlte, dass sich etwas im Leder befand. Jonna steckte die Mappe ein und kletterte hinunter.
„Hast du was gefunden?“
„Nee, lohnt nicht. Danke für den Kuchen, ich muss dann mal wieder.“
Jonna hielt am Wegrand und ging hinüber zu den Erlen bei den Bächen. Sie war schon seit vielen Jahren nicht mehr hier gewesen. Verändert hatte sich nichts, als war als wäre die Zeit hier stehen geblieben. Sie setzte sich ins Gras und zog die Ledermappe hervor, die sie sich hinten in den Hosenbund gesteckt hatte. Sie befühlte das Leder. Es war weich und geschmeidig. Ein paar dünne Schnüre, auf die bunte Glasperlen gezogen waren, schmückten es. Vorsichtig löste Jonna das Band und öffnete die kleine Mappe. Alte Zeitungsauschnitte lagen drin.
„1905“, murmelte Jonna und begann zu lesen. Schnipsel für Schnipsel faltete sie auseinander. Die Artikel berichteten vom Verschwinden der Ehefrau des aus Amerika zurückgekehrten Johannes Hansen. Er hatte seine Frau, eine Indianerin, bei seiner Rückkehr in die Heimat mitgenommen. Zwei Kinder hätten sie gehabt, wovon die Tochter bereits in Amerika geboren und dort bei dem Stamm geblieben sei. Der Junge hingegen sei kurz vor ihrem Tode in Nordfriesland auf dem elterlichen Bauernhof geboren. Der letzte Artikel vermeldete die Einstellung der Ermittlungen, vermutlich hätte die Frau versucht, auf eigenem Wege nach Hamburg zu gelangen und von dort die Heimreise nach Amerika anzutreten.
Jonna lehnte sich an die Erle. So war das also gewesen damals. War an den alten Familiengeschichten doch etwas Wahres. Aber wie wollte Shoona wohl, mittellos wie sie war, die Überfahrt nach Amerika bezahlt haben? Das klang nicht sehr glaubhaft.
Da steckte noch etwas. Die Einwanderungspapiere „Shoona Hansen, geboren 1875 in Shawnee, Pottawatomie, Indianerin, von Beruf Schamanin“, hieß es in der Urkunde. Das war also ihre Ururgroßmutter.
Jonna zog noch etwas aus der Mappe hervor. Ein Webstück von etwa zehn mal zehn Zentimeter Größe, mit einem bunten Muster. Was das wohl war? Hübsch war es, vielleicht so eine Art Stammeszeichen? Sie hatte einmal gelesen, dass man anhand von Farben und Webmustern die Stammeszugehörigkeit erkennen konnte.
Ihr war kalt geworden. Die Sonne stand weit im Westen und würde bald hinter dem Horizont verschwinden. Jonna stand auf, dabei rutschte sie auf dem feuchten Ufergrund aus und stürzte. Sie konnte sich gerade noch an einem Zweig einer jungen Erle festhalten und sich hochziehen. „Scheiße“, schimpfte sie. Natürlich war die Hose verdreckt und die Schuhe auch. Sie zog den Fuß aus dem Schlamm. Dabei fiel ihr Blick auf etwas Weißliches, das aus dem Schlamm ragte. Jonna bückte sich. Ein Knochen. Sie zog ihn hervor. Und da noch einer, zwei richtig große, lange Knochen. „Das sind doch …“, murmelte Jonna. Aber konnte das sein? Tatsächlich, menschliche Unterarmknochen, Elle und Speiche. Sie war zwar keine Medizinerin, aber soviel konnte sie doch erkennen. Sie stand auf und ging zum Auto. Sie griff zum Handy und rief auf der Dienststelle an.
Nach einer Stunde waren die Kollegen aus Flensburg da.
„Du meinst tatsächlich, dass es das Skelett deiner Oma ist?“ fragte Hauptkommissar Kreebs.
„Nee, nicht meiner Oma, Ururgroßmutter, vermutlich 1905 gestorben, indianischer Herkunft. Das können die Kollegen der Rechtsmedizin sicher schnell herausfinden.“ Sie reichte ihm die Zeitungsausschnitte von 1905. Die Ledermappe und das Webstück behielt sie.
Die Kollegen arbeiteten schnell. Die Rechtsmedizin bestätigte schon nach zwei Tagen, dass es sich tatsächlich um Jonnas Vorfahrin handelte. Sie fanden keinen Hinweis auf Fremdeinwirkung, wie es standardmäßig hieß. Eine Straftat schied damit aus. „Selbstmord“, lautete das Ergebnis. Die Akte wurde geschlossen, nun endgültig.
***
Jonna saß auf dem Fußboden ihres Wohnzimmers. Der Schein einer Kerze beleuchtete ihr Gesicht. Der Rest des Raumes war in Dunkel gehüllt. Jonna hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich. Sie versuchte, zu Shoona Kontakt aufzunehmen, wie es ihr in Ansätzen bereits vor Jahren als Kind gelungen war. Shoona war es auch gewesen, die ihr den Platz bei den Erlen gezeigt hatte, aber erst vor kurzem hatte der Ort sein Geheimnis preisgegeben. Jonnas Lippen bewegten sich unablässig, aber kein Laut war davon zu hören. Sie erzählte von ihrem Leben, von ihren Erfahrungen und Wünschen, aber auch von dem, was sie bedrückte und bewegte. Jonna teilte der Ahnin ihr Privatleben und ihre beruflichen Zweifel mit. Aber sie erhielt keine Antwort.
Jonna erwachte aus der Trance. Auch ohne eine Antwort erhalten zu haben, wusste sie, was sie zu tun hatte.
Selbst im Dunkel der Nacht fiel es Jonna leicht, den Weg zu den Erlen zu finden. Sie hatte sich einen Poncho übergezogen und einen Schal um die Schultern gelegt. Die mitgebrachte Styroporplatte diente ihr als Sitz auf dem feuchten Untergrund. Jonna schloss die Augen, brachte ihren Puls auf absolutes Ruheniveau und konzentrierte sich auf den Kontakt mit Shoona. Langsam zeichnete sich das Bild der Ahnin im Dunkel ab, ein Gesicht, als wäre es ihr eigenes Foto. Shoona lächelte und sagte: „Jonna, es ist gut, dass du gekommen bist. Nur hier an diesem Ort kann ich dir mitteilen, was ich dir sagen will. Höre mir gut zu. Du weißt, ich war die letzte Schamanin meines Stammes. Ich hätte meine Familie, meinen Stamm nicht verlassen sollen. Aber trotzdem bin ich meinem Mann in dieses fremde Land gefolgt. Nun ist es an der Zeit, den Kreis zu schließen. Und du Jonna, bis es, die dafür bestimmt ist. Alles Wissen meiner Vorfahren, aber auch das meiner Kinder und Kindeskinder ist in dir konzentriert. Alle Erfahrung ruht in dir. Nutze deine Kräfte und setze sie zum Wohle aller ein, die dich umgeben. Du kannst es. Das kleine Webstück wird dir alle Türen öffnen.“
Am anderen Tag betrat Jonna gleich zu Dienstbeginn das Büro des Chefs. Sie legte ihren Dienstausweis und die Waffe auf den Tisch. Den Umschlag mit dem Kündigungsschreiben reichte sie ihm hinüber. Nachdem er gelesen hatte, was er bereits geahnt hatte, sagte der Chef: „Es ist meine Aufgabe, dich zur Rücknahme der Kündigung zu bewegen. Was wirst du antworten?“
„Dass meine Entscheidung feststeht. Ich werde gehen.“
„Wohin, wenn ich fragen darf.“
„In die Staaten, genauer nach Oklahoma.“
„Nach Oklahoma? Als Polizistin?“
Jonna lächelte: „Nein, nicht als Polizistin. Aber ich werde mich sicher mal bei euch melden.“
***
Es war ein lauer Sommerabend. Die Sonne machte sich auf, den Tag zu verabschieden und tauchte den Himmel in ein irres Farbenspiel.
„Du willst tatsächlich hierbleiben?“ fragte Anna.
Jonna nickte. „Ich weiß, ich gehöre hierhin. Hier ist meine Heimat, Shoona hatte recht.“ Sie stand auf und legte ein neues Stück Holz aufs Feuer. Der Rauch stieg fast senkrecht in den Himmel.
„Ich freue mich, dass du gekommen bis, Jonna. Ich habe mir immer eine große Schwester gewünscht. Auch wenn wir keine Geschwister sind, sind unsere Urgroßeltern doch Bruder und Schwester gewesen. Shoona hat zwar die Tochter hier beim Stamm gelassen, aber ihr Sohn wurde ja bei euch geboren.“
„So kann es im Leben laufen. Damals wurden die Geschwister getrennt, aber dieses kleine Webstück hat uns nach Generationen wieder zusammengeführt.“ Jonna löste das Stück von ihrem Gürtel. Liebevoll schaute sie es an. „Ich werde es nie verlieren. Es ist nicht nur eine alte Erinnerung, es ist auch das Band, das unsere Familie und den ganzen Stamm zusammenhält. So hat Shoona es mir gesagt, und so ist es gekommen.“
„Und vergiss nicht, dass es auch das äußere Zeichen der Schamaninnen des Stammes ist.“
Ende
Besonders anschaulich ist dir die Szene im alten Schuppen gelungen, da steigt man mit Jonna hoch und sieht mit ihr die vereinzelten Sonnenstrahlen und den Kamin. Die Geschichte ist rund, so wie sie ist und Jonna ist eine interessante Heldin deiner Geschichte, ich könnte mir aber vorstellen, dass der Amerikateil etwas länger ausfällt. Du könntest Jonna z. B. mit einem Auftritt als Schamanin den Kontakt herstellen lassen oder eine Szene schaffen, in der das Webstück als Identitätsbeweis auftaucht.
Ja, ich habe lange überlegt, noch die Ankunft (und mehr) in die Geschichte einzubauen. Aber ich habe mich doch für diese Version entschieden. Denkbar ist natürlich auch eine längere Geschichte.
Danke für Deine Anregung, und fürs Lesen des doch sehr langen Textes.
Lange Texte sind im Netz meistens ein Problem. Dein Zweiteiler ist da eine gute Lösung.